Anna Ritter Frühlingsmärchen

  1.
  Ein Brünnlein im Felde, sechs Linden im Kreis,
  Und die Wälder so still, und die Sonne so heiß,
  Und wir beide am Brunnenstein
5 So mutterseelenallein.
  Du botest mir lächelnd den Zauberkelch,
  Und ich trank ihr leer bis zur Neige,
  Meine Augen sagten dir: "Schweige!
  Es ist ein liebliches Wunder in mir,
10 Wenn die Stunde kommt, verrath' ich es dir."
  Da rauschte es leis durch die Zweige:
  Schweige.

  2.
  Nun sitzest du zu meinen Füßen,
15 Und um uns beide streicht der Wind -
  Das ist wie ein geheimes Grüßen
  Von wundervollen, blauen Tagen,
  Die über uns gekommen sind.
  Ich sag' dir all die wilden Lieder,
20 Um die ich tausend Schmerzen litt,
  Du siehst verloren vor dich nieder,
  Und meine Noth und meine Wonne,
  Du fühlst es alles, alles mit.
  Und tausend feine Fäden spinnen
25 Uns beiden Träumer heimlich ein,
  Es ist ein überquellend Geben
  Und Nehmen zwischen unsern Seelen,
  Und herrlich mag die Ernte sein.

  3.
30 Und immer schöner ward der Tag,
  Und immer höher stieg die Gluth,
  Und immer banger hat dein Blick
  Auf meinem stillen Mund geruht.
  Ich aber schüttelte den Staub
35 Vom Kleid und zog dich eilends fort,
  Doch was in uns verschlossen war,
  Wir wußten's beide ohne Wort.

  4.
  Zwischen den Schlehdornbüschen
40 Führte der Weg hinan,
  Primeln und Anemonen
  Sahen uns lächelnd an,
  Primeln und Anemonen
  Wußten viel mehr als wir -
45 Roth bis über die Ohren,
  Brach ich ein Sträußlein dir.

  5.
  Vom Waldesrand ein letztes Winken
  Hinab ins sonnbeglänzte Thal -
50 Wann werden wir zum andernmal
  Aus jenem Zauberbronnen trinken?
  Der Klang von unsern warmen Worten
  Er wird verwehn, so bald, so bald -
  Ein Schauer faßt mich vor dem Wald
55 Und seinen dunklen, stillen Pforten.
  Und zögernd nur mag ich mich schicken
  Den heimlich düstern Weg zu gehn -
  Wer allzulang ins Licht gesehn
  Dem flimmert's seltsam vor den Blicken.

60 6.
  Es lief ein scheues Reh im Walde,
  Von ferne kam des Kuckucks Schrei,
  Da strich's mit großen, stillen Augen
  Auf schmalem Pfad an uns vorbei.
65 Wir aber schritten, wie zwei Kinder,
  In selgem Staunen hinterdrein,
  Durch junges Laub und Blüthenzweige
  Bis tief ins Märchenland hinein.
  Und wie wir uns zurückgefunden,
70 Wir wissen's beide heut' nicht mehr -
  Es flog auf jenen schwülen Wegen
  Ein Engel leuchtend vor uns her.

Neuen Kommentar hinzufügen

Die Technik der Kommentarfunktion "DISQUS" wird von einem externen Unternehmen, der Big Head Labs, Inc., San Francisco/USA., zur Verfügung gestellt, die Moderation der Kommentare liegt allein bei Lyrik123.de. Weitere Informationen finden Sie in unseren Datenschutzbestimmungen.