Annette von Droste-Hülshoff Am letzten Tage des Jahres (Sylvester) (1840)

  Das Jahr geht um,
  Der Faden rollt sich sausend ab.
  Ein Stündchen noch, das letzte heut,
  Und stäubend rieselt in sein Grab
5 Was einstens war lebendge Zeit.
  Ich harre stumm.

  S' ist tiefe Nacht!
  Ob wohl ein Auge offen noch?
  In diesen Mauern rüttelt dein
10 Verrinnen, Zeit! Mir schaudert, doch
  Es will die letzte Stunde sein
  Einsam durchwacht.

  Gesehen all,
  Was ich begangen und gedacht.
15 Was mir aus Haupt und Herzen stieg,
  Das steht nun eine ernste Wacht
  Am Himmelsthor. O halber Sieg,
  O schwerer Fall!

  Wie reißt der Wind
20 Am Fensterkreuze, ja es will
  Auf Sturmesfittigen das Jahr
  Zerstäuben, nicht ein Schatten still
  Verhauchen unterm Sternenklar.
  Du Sündenkind!

25 War nicht ein hohl
  Und heimlich Sausen jeder Tag
  In der vermorschten Brust Verließ,
  Wo langsam Stein an Stein zerbrach,
  Wenn es den kalten Odem stieß
30 Vom starren Pol?

  Mein Lämpchen will
  Verlöschen, und begierig saugt
  Der Docht den letzten Tropfen Oel.
  Ist so mein Leben auch verraucht,
35 Eröffnet sich des Grabes Höhl
  Mir schwarz und still?

  Wohl in dem Kreis,
  Den dieses Jahres Lauf umzieht,
  Mein Leben bricht: Ich wußt es lang!
40 Und dennoch hat dies Herz geglüht
  In eitler Leidenschaften Drang.
  Mir brüht der Schweiß

  Der tiefsten Angst
  Auf Stirn und Hand! – Wie, dämmert feucht
45 Ein Stern dort durch die Wolken nicht?
  Wär es der Liebe Stern vielleicht,
  Dich scheltend mit dem trüben Licht,
  Daß du so bangst?

  Horch, welch Gesumm?
50 Und wieder? Sterbemelodie!
  Die Glocke regt den ehrnen Mund.
  O Herr, ich falle auf das Knie:
  Sey gnädig meiner letzten Stund!
  Das Jahr ist um!

Neuen Kommentar hinzufügen

Die Technik der Kommentarfunktion "DISQUS" wird von einem externen Unternehmen, der Big Head Labs, Inc., San Francisco/USA., zur Verfügung gestellt, die Moderation der Kommentare liegt allein bei Lyrik123.de. Weitere Informationen finden Sie in unseren Datenschutzbestimmungen.