August Kopisch

Der Schneiderjunge von Krippstedt (1853)

  (Nach alter handschriftlicher Notiz)

  In Krippstett wies ein Scheiderjunge
  Dem Bürgermeister einst die Zunge:
  Es war im Jahr Eintausend siebenhundert.
5 Der Bürgermeister sehr sich wundert
  Und findt es wider den Respect,
  Weshalb er in den Thurm ihn steckt.
  Es war nach der Nachmittagpredigt,
  Die Kirche noch nicht ganz erledigt,
10 Am heil'gen Trinitatis Tag,
  Da geschah auf einmal einer großer Schlag!
  Es schlug, mit Gedonner, im Wettersturm
  Der Blitz in denselben Sanct Niclasthurm.
  Der Schreck durchfährt die ganze Stadt,
15 Die kaum sich vom Brand erhoben hat.
  Was innen ist im Gotteshaus,
  Das dringt mit aller Gewalt heraus:
  Was außen ist, das will hinein! –
  Da sieht man auf einmal Flammenschein
20 Von außen an des Thurmes Spitze:
  Da rief man »Feuer! Wasser! Wo ist die Spritze?«
  – Die Spritze, ja, die ist dicht dabei;
  Doch Kasten und Röhren sind entzwei! –
  Wie saure Milch lauft alles zusammen:
25 Man schreit und blickt auf die Feuerflammen.
  Dazwischen – es war ein böser Tag –
  Hallt mancher Donner– und Wetterschlag! –
  Nun sammelt sich der Magistrat,
  Und jeder weiß etwas und keiner weiß Rath!
30 Der Bürgermeister, ein weiser Mann,
  Sieht sich das Ding bedenklich an
  Und spricht: hört mich, wir zwingens nicht!
  Der Thurm brennt nieder wie ein Licht,
  Es kommt, wer hätte das gedacht sich,
35 Wie Anno sechzehnhundert achtzig!
  Erst brennt der Thurm, die Kirche, die Stadt sodann;
  Drum ist mein Rath: rett' jeder was er kann! –
  Da laufen die Bürger; mit aller Kraft
  Ein jeder das Seine zusammenrafft.
40 Das ist ein Gerenne, wie fliegen die Zöpfe,
  Wie stoßen zusammen die Puderköpfe!
  Auf einmal – was krabbelt dort aus dem Loch
  Am Thurm? – der Junge! – Nein! – Und doch!
  Er ists, er klettert zu Thurmes Spitze –
45 Der Schlingel! Er nimmt vom Kopf die Mütze,
  Er schlägt auf das Feuer und – daß dich der Daus! –
  Er löscht es mit seiner Mütze aus!
  Er tupft am ganzen Thurm umher,
  Man sieht nicht eine Flamme mehr!
50 Und während alle jubelnd schrein,
  Schlüpft er von neuem ins Loch hinein.
  Er scheut des Magistrates Wesen
  Und sitzt, als wär gar nichts gewesen.
  Das mehrt den Jubel, die Bürger alle
55 Rufen ihm Vivat! mit großen Schalle;
  Der Bürgermeister aber spricht,
  Indem sein großer Zorn sich bricht:
  Holt ihn heraus, ich erzeig ihm Ehr,
  Und thu für ihn zeitlebens mehr! –
60 »Da kommt er ganz rußig, der Knirps, der Zwerg!
  Hoch lebe der kleine Liewenberg!« –
  Der Bürgermeister sprach: komm Junge,
  Streck noch einmal heraus die Zunge!
  Ich leg dir lauter Ducaten drauf!
65 So, sperr den Mund recht angelweit auf!
  Nur immer mehr herausgereckt!
  Wir haben alle vor dir Respect!
  Und morgen wird, daß nichts manquirt,
  Die große Spritze hier probirt
70 Und was entzwei ist, reparirt! –