Barthold Hinrich Brockes Kirsch-Blühte bey der Nacht (1728)
Ich sahe mit betrachtendem Gemüthe
Jüngst einen Kirschbaum, welcher blühte,
In kühler Nacht beym Mondenschein;
Ich glaubt', es könne nichts von größrer Weisse seyn.
5 Es schien, ob wär ein Schnee gefallen.
Ein jeder, auch der kleinste, Ast
Trug gleichsam eine schwere Last
Von zierlich weissen runden Ballen.
Es ist kein Schwan so weiß, da nemlich jedes Blatt,
10 Indem daselbst des Mondes sanftes Licht
Selbst durch die zarten Blätter bricht,
So gar den Schatten weiß und sonder Schwärze hat.
Unmöglich, dacht ich, kann auf Erden
Was weissers angetroffen werden.
15 Indem ich nun bald hin und her
Im Schatten dieses Baumes gehe;
Sah' ich von ungefähr
Durch alle Blumen in die Höhe,
Und ward noch einen weissern Schein,
20 Der tausendmal so weiß, der tausendmal so klar,
Fast halb darob erstaunt, gewahr.
Der Blüthe Schnee schien schwarz zu seyn
Bey diesem weissen Glanz. Es fiel mir ins Gesicht
Von einem hellen Stern ein weisses Licht,
25 Das mir recht in die Seele strahlte.
Wie sehr ich mich am Irdischen ergetze,
Dacht' ich, hat Gott dennoch weit größre Schätze.
Die größte Schönheit dieser Erden
Kann mit der himmlischen doch nicht verglichen werden.

Bibliographische Daten
Barthold Hinrich Brockes (1680-1747)
Kirsch-Blühte bey der Nacht
Ich sahe mit betrachtendem Gemüthe …
1728
Aufklärung
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