Carl Spitteler Die Glockenjungfern (1893)
Die Glockenjungfern schwingen
Sich hoch vom Turm und singen
Von Lieb und Treu den heiligen Chor.
Kein Engelmund tönt reiner,
5 Je ferner, desto feiner,
Und jede sagts der Nachbarin ins Ohr.
Verknüpft die Schwesternhände
Zur Kette ohne Ende,
Blüht durch die Luft der farbige Kranz
10 Hoch über alle Felder,
Und Berg und Tal und Wälder
Verschönt des Liedes sonniger Glanz.
Da mahnt ein Glockenzeichen –
Ein plötzliches Erbleichen,
15 Und alles heimwärts stürzt und drängt.
O weh! der Jungfern kleinste,
Die Lieblichste, die Feinste
Ist von dem Reigen abgesprengt.
Sie huscht auf leisen Sohlen,
20 Die Schwestern einzuholen,
Den Finger ängstlich an dem Mund.
Jetzt langt sie an mit Zagen –
Ein Taubenflügelschlagen –
Und stille wird es rings im Rund.
25 Horch! welch Posaunenschweigen!
Die Lüfte ziehn und steigen
Und schauen nach dem Turm vereint,
Ob irgendwo ein Röckchen,
Ein Zipfel oder Söckchen
30 Der Glockenjungfern hold erscheint.

Bibliographische Daten
Carl Spitteler (1845-1924)
Die Glockenjungfern
Die Glockenjungfern schwingen …
1893
Symbolismus
Neuen Kommentar hinzufügen
Die Technik der Kommentarfunktion "DISQUS" wird von einem externen Unternehmen, der Big Head Labs, Inc., San Francisco/USA., zur Verfügung gestellt, die Moderation der Kommentare liegt allein bei Lyrik123.de. Weitere Informationen finden Sie in unseren Datenschutzbestimmungen.