Clemens Brentano „Die Abendwinde wehen …“ (1834)

  Die Abendwinde wehen,
  Ich muß zur Linde gehen,
  Muß einsam weinend stehen,
  Es kommt kein Sternenschein;
5 Die kleinen Vöglein sehen
  Betrübt zu mir und flehen,
  Und wenn sie schlafen gehen,
  Dann wein‘ ich ganz allein!
   „Ich hör‘ ein Sichlein rauschen,
10  Wohl rauschen durch den Klee,
   Ich hör‘ ein Mägdlein klagen
   Von Weh, von bitterm Weh!“

  Ich soll ein Lied dir singen,
  Ich muß die Hände ringen,
15 Das Herz will mir zerspringen
  In bittrer Tränenflut,
  Ich sing‘ und möchte weinen,
  So lang der Mond mag scheinen,
  Sehn‘ ich mich nach der Einen,
20 Bei der mein Leiden ruht!
   „Ich hör‘ ein Sichlein rauschen,
   Wohl rauschen durch den Klee,
   Ich hör‘ ein Mägdlein klagen
   Von Weh, von bitterm Weh!“

25 Mein Herz muß nun vollenden
  Da sich die Zeit will wenden,
  Es fällt mir aus den Händen
  Der letzte Lebenstraum.
  Entsetzliches Verschwenden
30 In allen Elementen,
  Mußt‘ ich den Geist verpfänden,
  Und alles war nur Schaum!
   „Ich hör‘ ein Sichlein rauschen,
   Wohl rauschen durch den Klee,
35  Ich hör‘ ein Mägdlein klagen
   Von Weh, von bitterm Weh!“

  Was du mir hast gegeben,
  Genügt ein ganzes Leben
  Zum Himmel zu erheben;
40 O sage, ich sei dein!
  Da kehrt sie sich mit Schweigen
  Und gibt kein Lebenszeichen,
  Da mußte ich erbleichen,
  Mein Herz ward wie ein Stein.
45  „Ich hör‘ ein Sichlein rauschen,
   Wohl rauschen durch den Klee,
   Ich hör‘ ein Mägdlein klagen
   Von Weh, von bitterm Weh!“

  Heb Frühling jetzt die Schwingen,
50 Laß kleine Vöglein singen,
  Laß Blümlein aufwärts dringen,
  Süß Lieb geht durch den Hain.
  Ich mußt‘ mein Herz bezwingen,
  Muß alles niederringen,
55 Darf nichts zu Tage bringen,
  Wir waren nicht allein!
   „Ich hör‘ ein Sichlein rauschen,
   Wohl rauschen durch den Klee,
   Ich hör‘ ein Mägdlein klagen
60  Von Weh, von bitterm Weh!“

  Wie soll ich mich im Freien
  Am Sonnenleben freuen,
  Ich möchte laut aufschreien,
  Mein Herz vergeht vor Weh!
65 Daß ich muß alle Tränen,
  All Seufzen und all Sehnen
  Von diesem Bild entlehnen,
  Dem ich zur Seite geh‘!
   „Ich hör‘ ein Sichlein rauschen,
70  Wohl rauschen durch den Klee,
   Ich hör‘ ein Mägdlein klagen
   Von Weh, von bitterm Weh!“

  Wenn du von deiner Schwelle
  Mit deinen Augen helle,
75 Wie letzte Lebenswelle
  Zum Strom der Nacht mich treibst,
  Da weiß ich, daß sie Schmerzen
  Gebären meinem Herzen
  Und löschen alle Kerzen,
80 Daß du mir leuchtend bleibst!
   „Ich hör‘ ein Sichlein rauschen,
   Wohl rauschen durch den Klee,
   Ich hör‘ ein Mägdlein klagen
   Von Weh, von bitterm Weh!“

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