Conrad Ferdinand Meyer Einsiedel (1883)

  «Was pocht mir an das Fenster?
  Was klopft an meine Tür so laut?»
  - «Ich bin ein junger Wildfang
  Und naß bis auf die Haut.

5 Ich bin der Gerold Wendel,
  Wir ziehen an den Hof zu zwein,
  Der andre ist ein Konrad
  Und nennt sich Lützelstein.

  Der duckt sich etwo anders
10 Vor Blitzgezuck und Wetterzorn
  Und bläst mich morgen munter
  Mit seinem Jägerhorn.

  Einsiedel, frommer Bruder,
  Ihr sehet, wie es um mich steht!
15 Gewährt mir Euer Lager
  Und sprecht mein Nachtgebet!»

  Er lallt es, halb entschlummert,
  Und streckt die Glieder aus zur Ruh,
  Einsiedel deckt sein Lämpchen
20 Mit beiden Händen zu.

  «Wie lieblich ist die Jugend!
  Hätt ich ein Füllhorn voller Glück,
  Ich leert es dir zu Häupten,
  Es bliebe nichts zurück.»

25 Der Schlummrer wird zum Träumer,
  In hast'gen Worten redet er,
  Lacht, weint in einem Atem
  Und wirft sich hin und her.

  - «Ich habe Blut vergossen!»
30 Einsiedel faßt besorgt ihn an.
  «Du träumst nicht gut. Erwache!
  Die Augen aufgetan!»

  Er starrt mit wilden Blicken.
  «Mein Kind, wie hast du mich erschreckt!»
35 - «Einsiedel, frommer Bruder,
  Ich bin mit Blut bedeckt.

  Wir saßen unter Linden,
  Ich und der Konrad Lützelstein,
  Ein Fräulein von dem Hofe
40 Bot lachend uns den Wein.

  Sie streift' mich mit dem Ärmel,
  Die binsenschlank gewachsen war
  Sie hatte schnelle Augen
  Und aschenblondes Haar.

45 Sie streift mich mit der Achsel
  Und lispelt mir ins Ohr hinein
  Wilt, junger Edelknabe,
  Mein Trautgeselle sein?"

  Da schwang man einen Reigen,
50 Sie reigte mit dem Lützelstein-
  Will, junger Edelknabe,
  Mein Trautgeselle sein?"

  Mir schwoll die Brust vor Eifer,
  Ein Hader reißt die Klingen bloß-
55 Herzbruder, mein Herzbruder,
  Gabst mir den Todesstoß!"»...

  Einsiedel mahnt: «Erwache!»
  Und schiebt zurück sein Fensterlein.
  Da ströme mit Tannendüften
60 Ein Erdgeruch herein.

  Und horch, ein Hifthorn schmettert
  Und eine frische Stimme schallt:
  «Wo steckt der Gerold Wendel?
  Den such ich durch den Wald!»

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