Conrad Ferdinand Meyer Fingerhütchen (1865)

       Fingerhut zu Hause?
       Tief im Tal von Acherloo
       Hat er Herd und Klause;
  Aber schon in jungen Tagen
5 Muß er einen Höcker tragen,
       Geht er, wunderlicher nie
       Wallte man auf Erden!
       Sitzt er, staunen Kinn und Knie,
       Daß sie Nachbarn werden.

10      Körbe flicht aus Binsen er,
       Früh und spät sich regend,
       Trägt sie zum Verkauf umher
       In der ganze Gegend,
  Und er gäbe sich zufrieden,
15 Wär' er nicht im Volk gemieden;

        Denn man zischelt mancherlei:
       Daß ein Hexenmeister,
       Daß er kräuterkundig sei
       Und im Bund der Geister.

20      Solches ist die Wahrheit nicht,
       Ist ein leeres Meinen,
       Doch das Volk im Dämmerlicht
       Schaudert vor dem Kleinen.
  So die Jungen wie die Alten
25 Weichen aus dem Ungestalten –
       Doch vorüber wohlgemut
       Auf des Schusters Räppchen
       Trabt er. Blauer Fingerhut
       Nickt von seinem Käppchen.

30       Einmal geht er heim bei Nacht
       Nach des Tages Lasten,
       Hat den halben Weg gemacht,
       Darf ein bißchen rasten,
  Setzt sich und den Korb daneben,
35 Schimmernd hebt der Mond sich eben:
       Fingerhut ist gar nicht bang,
       Ihm ist gar nicht schaurig,
       Nur daß noch der Weg so lang,
       Macht den Kleinen traurig.

40      Etwas hört er klingen fein –
       Nicht mit rechten Dingen,
       Mitten aus dem grünen Rain
       Ein melodisch Singen:
  »Silberfähre, gleitest leise« –
45 Schon verstummt die kurze Weise.
       Fingerhütchen spähet scharf
       Und kann nichts entdecken,
       Aber was er hören darf,
       Ist nicht zum Erschrecken.

50      Wieder hebt das Liedchen an
       Unter Busch und Hecken,
       Doch es bleibt der Reimgespan
       Stets im Hügel stecken.
  »Silberfähre, gleitest leise« –
55 Wiederum verstummt die Weise.
       Lieblich ist, doch einerlei
       Der Gesang der Elfen,
       Fingerhütchen fällt es bei,
       Ihnen einzuhelfen.

60      Fingerhütchen lauert still
       Auf der Töne Leiter,
       Wie das Liedchen enden will,
       Führt er leicht es weiter:
  »Silberfähre, gleitest leise« –
65 »Ohne Ruder, ohne Gleise.«
       Aus dem Hügel ruft's empor:
       »Das ist dir gelungen!«
       Unterm Boden kommt hervor

       »Fingerhütchen, Fingerhut«,
70      Lärmt die tolle Runde,
       »Faß dir einen frischen Mut!
   Günstig ist die Stunde!
  Silberfähre, gleitest leise
  Ohne Ruder, ohne Gleise!
75      Dieses hast du brav gemacht,
       Lernet es, ihr Sänger!
       Wie du es zustand gebracht,
       Hübscher ist's und länger!

       Zeig dich einmal, schöner Mann!
80      Laß dich einmal sehen!
       Vorn zuerst und hinten dann!
       Laß dich einmal drehen!
  Weh! Was müssen wir erblicken!
  Fingerhütchen, welch ein Rücken!
85      Auf der Schulter, liebe Zeit,
       Trägst du grause Bürde!
       Ohne hübsche Leiblichkeit
       Was ist Geisteswürde?

       Eine ganze Stirne voll
90      Glücklicher Gedanken,
       Unter einem Höcker soll
       Länger nicht sie schwanken!
  Strecket euch, verkrümmte Glieder!
  Garstger Buckel, purzle nieder!
95      Fingerhut, nun bist du grad,
       Deines Fehls genesen!
       Heil zum schlanken Rückengrat!
       Heil zum neuen Wesen!«

       Plötzlich steckt der Elfenchor
100      Wieder tief im Raine,
       Aus dem Hügelrund empor
       Tönt's im Mondenscheine:
  »Silberfähre, gleitest leise
  Ohne Ruder, ohne Gleise.«
105      Fingerhütchen wird es satt,
       Wäre gern daheime,
       Er entschlummert laß und matt
       An dem eignen Reime.

       Schlummert eine ganze Nacht
110      Auf derselben Stelle,
       Wie er endlich auferwacht,
       Scheint die Sonne helle:
  Kühe weiden, Schafe grasen
  Auf des Elfenhügels Rasen.
115      Fingerhut ist bald bekannt,
       Läßt die Blicke schweifen,
       Sachte dreht er dann die Hand,
       Hinter sich zu greifen.

       Ist ihm Heil im Traum geschehn?
120      Ist das Heil die Wahrheit?
       Wird das Elfenwort bestehn
       Vor des Tages Klarheit?
  Und er tastet, tastet, tastet:
  Unbebürdet! Unbelastet!
125      »Jetzt bin ich ein grader Mann!«
       Jauchzt er ohne Ende,
       Wie ein Hirschlein jagt er dann
       Über Feld behende.

       Fingerhut steht plötzlich still,
130      Tastet leicht und leise,
       Ob er wieder wachsen will?
       Nein, in keiner Weise!
  Selig preist er Nacht und Stunde,
  Da er sang im Geisterbunde –
135      Gleich als hätt' er Flügel,
       Seit er schlummernd niedersank
       Nachts am Elfenhügel.

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