Emanuel Geibel Morgenwanderung (1840)

     Wer recht in Freuden wandern will,
  Der geh‘ der Sonn' entgegen;
  Da ist der Wald so kirchenstill,
  Kein Lüftchen mag sich regen;
5       Noch sind nicht die Lerchen wach,
        Nur im hohen Gras der Bach
  Singt leise den Morgensegen.

     Die ganze Welt ist wie ein Buch,
  Darin uns aufgeschrieben
10 In bunten Zeilen manch ein Spruch,
  Wie Gott uns treu geblieben;
        Wald und Blumen nah und fern
        Und der helle Morgenstern
  Sind Zeugen von seinem Lieben.

15    Da zieht die Andacht wie ein Hauch
  Durch alle Sinne leise,
  Da pocht ans Herz die Liebe auch
  In ihrer stillen Weise,
        Pocht und pocht, bis sich's erschließt
20       Und die Lippe überfließt
  Von lautem, jubelndem Preise.

     Und plötzlich läßt die Nachtigall
  Im Busch ihr Lied erklingen,
  In Berg und Tal erwacht der Schall
25 Und will sich aufwärts schwingen,
        Und der Morgenröte Schein
        Stimmt in lichter Glut mit ein:
  Laßt uns dem Herrn lobsingen.

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