Ewald Christian von Kleist Irin (1757)
An Salomo Gessner
An einem schönen Abend fuhr
Irin mit seinen Sohn im Kahn
Auf’s Meer, um Reusen in das Schilf
5 Zu legen, welches ringsumher
Der nahen Inseln Strand umgab.
Die Sonne tauchte sich bereits
Ins Meer, und Flut und Himmel schien
Im Feur zu glühen.
10 O! wie schön
Ist itzt die Gegend! Sagt’ entzückt
Der Knabe, den Irin gelehrt,
Auf jede Schönheit der Natur
Zu merken. Sieh, sagt’ er, den Schwan,
15 Umringt von seiner frohen Brut,
Sich in den rothen Wiederschein
Des Himmels tauchen! Sieh’, er schifft,
Zieht rothe Furchen in die Flut.
Und spannt des Fittigs Segel auf. –
20 Wie lieblich flüstert dort im Hain
Der schlanken Espen furchtsam Laub
Am Ufer, und wie reizend fließt
Die Saat in grünen Wellen fort,
Und rauscht, vom Winde sanft bewegt. –
25 O! was für Anmuth haucht anitzt
Gestad’ und Meer und Himmel aus!
Wie schön ist Alles! Und wie froh
Und glücklich macht uns die Natur!
Ja, sagt’ Irin, sie macht uns froh
30 Und glücklich, und du wirst durch sie
Glückselig seyn dein Lebelang,
Wenn du dabey rechtschaffen bist;
Wenn wilde Leidenschaften nicht
Von sanfter Schönheit das Gefühl
35 Verhindern. O Geliebtester!
Ich werde nun in kurzem dich
Verlassen und die schöne Welt,
Und in noch schönern Gegenden
Den Lohn der Redlichkeit empfahn.
40 O! bleib der Tugend immer treu,
Und weine mit den Weinenden,
Und gieb von deinem Vorrath gern
Den Armen. Hilf, so viel du kannst,
Zum Wohl der Welt. Sey arbeitsam.
45 Erheb’ zum Herren der Natur,
Dem Wind und Meer gehorsam ist,
Der alles lenkt zum Wohl der Welt,
Den Geist. Wähl’ lieber Schand’ und Tod,
Eh du in Bosheit willigest.
50 Ehr’, Überfluß und Pracht ist Tand;
Ein ruhig Herz ist unser Theil.
Durch diese Denkungsart mein Sohn,
Ist unter lauter Freuden mir
Das Haar verbleichet. Und wiewohl
55 Ich achtzigmal bereits den Wald
Um unsre Hütte grünen sah,
So ist mein langes Leben doch,
Gleich einem heitern Frühlingstag’
Vergangen, unter Freud’ und Lust. –
60 Zwar hab’ ich auch manch Ungemach
Erlitten. Als dein Bruder starb,
Da flossen Thränen mir vom Aug’,
Und Sonn’ und Himmel schien mir schwarz.
Oft auch ergriff mich auf dem Meer
65 Im leichten Kahn der Sturm, und warf
Mich mit den Wellen in die Luft;
Am Gipfel eines Wasserbergs
Hing oft mein Kahn hoch in der Luft,
Und donnernd fiel die Flut herab,
70 Und ich mit ihr. Das Volk des Meers
Erschrak, wenn über seinem Haupt
Der Wellen Donner tobt’, und fuhr
Tief in den Abgrund; und mich dünkt’,
Daß zwischen jeder Welle mir
75 Ein feuchtes Grab sich öffnete.
Der Sturmwind tauchte dann ins Meer
Die Flügel, schüttelte davon
Noch eine See auf mich herab.
Allein bald legte sich der Zorn
80 Des Windes, und die Luft ward hell,
Und ich erblickt’ in stiller Flut
Des Himmels Bild. Der blaue Stör
Mit rothen Augen sahe bald
Aus einer Höhl’ im Kraut der See,
85 Durch seines Hauses gläsern Dach;
Und vieles Volk des weiten Meers
Tanzt’ auf der Flut im Sonnenschein;
Und Ruh und Freude kam zurück
In meine Brust. – Itzt wartet schon
90 Das Grab auf mich. Ich fürcht’ es nicht.
Der Abend meines Lebens wird
So schön, als Tag und Morgen seyn. – –
O Sohn! Sey fromm und tugendhaft;
So wirst du glücklich seyn, wie ich,
95 So bleibt dir die Natur stets schön.
Der Knabe schmiegt’ sich an den Arm
Irins, und sprach: Nein, Vater! Nein,
Du stirbst noch nicht; der Himmel wird
Dich noch erhalten, mir zum Trost!
100 Und viele Thränen flossen ihm
Vom Aug’. – – Indessen hatten sie
Die Reusen ausgelegt. Die Nacht
Stieg aus der See, sie ruderten
Gemach der Heimath wieder zu. – –
105 Irin starb bald. Sein frommer Sohn
Beweint ihn lang’, und niemals kam
Ihm dieser Abend aus dem Sinn.
Ein heil’ger Schauer überfiel
Ihn, wann ihm seines Vaters Bild
110 Vors Antlitz trat. Er folgete
Stets dessen Lehren. Segen kam
Auf ihn. Sein langes Leben dünkt’
Auch ihm Ein Frühlingstag zu seyn.
Bibliographische Daten
Ewald Christian von Kleist (1715-1759)
Irin
An einem schönen Abend fuhr …
1757
Empfindsamkeit
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