Ferdinand Freiligrath Im Walde (1836)

  Geh' ich einsam durch den Wald,
  Durch den grünen, düstern,
  Keines Menschen Stimme schallt,
  Nur die Bäume flüstern:

5 O, wie wird mein Herz so weit,
  Wie so hell mein Sinn!
  Märchen aus der Kinderzeit
  Treten vor mich hin.

  Ja, ein Zauberwald ist hier!
10 Was hier lebt und wächst,
  Stein und Blume, Baum und Tier,
  Alles ist verhext.

  Die auf dürren Laubes Gold
  Sich hier sonnt und sinnt,
15 Diese Natter, krausgerollt,
  Ist ein Königskind.

  Dort in jenen dunklen Teich,
  Der die Hindin tränkt,
  Ist ihr Palast hoch
20 Und reich tief hinabgesenkt.

  Den Herrn König, sein Gemahl,
  Und das Burggesinde
  Und die Ritter allzumal
  Halten jene Gründe.

25 Und der Habicht, der am Rand
  Des Gehölzes schwebt,
  Ist der Zaubrer, dessen Hand
  Diesen Zauber webt.

  O, wüßt' ich die Formel nun,
30 Die den Zauber löst,
  Gleich in meinen Armen ruh'n
  Sollte sie erlöst.

  Von der Schlangenhülle frei,
  Mit der Krone blank,
35 In den Augen süße Scheu,
  Auf den Lippen Dank.

  Aus dem Teiche wunderlich
  Stieg das alte Schloß,
  Ans Gestade drängte
40 Sich ritterlicher Troß.

  Und die alte Königin und der König,
  Beide, unter samt'nem Baldachin
  Säßen sie, der Bäume grün
  Zitterte vor Freude.

45 Und der Habicht, jetzt gewiegt
  Von Gewölk und Winden,
  Sollte machtlos und besiegt sich
  Im Staube winden.

  Waldesruhe, Waldeslust,
50 Bunte Märchenträume,
  O, wie labt ihr meine Brust,
  Lockt ihr meine Reime.

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