Friedrich Hölderlin

Der Rhein (1801)

  An Isaak von Sinclair

  Im dunkeln Efeu saß ich, an der Pforte
  Des Waldes, eben, da der goldene Mittag,
  Den Quell besuchend, herunterkam
5 Von Treppen des Alpengebirgs,
  Das mir die göttlichgebaute,
  Die Burg der Himmlischen heißt
  Nach alter Meinung, wo aber
  Geheim noch manches entschieden
10 Zu Menschen gelanget; von da
  Vernahm ich ohne Vermuten
  Ein Schicksal, denn noch kaum
  War mir im warmen Schatten
  Sich manches beredend, die Seele
15 Italia zu geschweift
  Und fernhin an die Küsten Moreas.

  Jetzt aber, drin im Gebirg,
  Tief unter den silbernen Gipfeln
  Und unter fröhlichem Grün,
20 Wo die Wälder schauernd zu ihm,
  Und der Felsen Häupter übereinander
  Hinabschaun, taglang, dort
  Im kältesten Abgrund hört'
  Ich um Erlösung jammern
25 Den Jüngling, es hörten ihn, wie er tobt',
  Und die Mutter Erd' anklagt',
  Und den Donnerer, der ihn gezeuget,
  Erbarmend die Eltern, doch
  Die Sterblichen flohn von dem Ort,
30 Denn furchtbar war, da lichtlos er
  In den Fesseln sich wälzte,
  Das Rasen des Halbgotts.

  Die Stimme wars des edelsten der Ströme,
  Des freigeborenen Rheins,
35 Und anderes hoffte der, als droben von den Brüdern,
  Dem Tessin und dem Rhodanus,
  Er schied und wandern wollt', und ungeduldig ihn
  Nach Asia trieb die königliche Seele.
  Doch unverständig ist
40 Das Wünschen vor dem Schicksal.
  Die Blindesten aber
  Sind Göttersöhne. Denn es kennet der Mensch
  Sein Haus und dem Tier ward, wo
  Es bauen solle, doch jenen ist
45 Der Fehl, daß sie nicht wissen wohin?
  In die unerfahrne Seele gegeben.

  Ein Rätsel ist Reinentsprungenes. Auch
  Der Gesang kaum darf es enthüllen. Denn
  Wie du anfingst, wirst du bleiben,
50 So viel auch wirket die Not,
  Und die Zucht, das meiste nämlich
  Vermag die Geburt,
  Und der Lichtstrahl, der
  Dem Neugebornen begegnet.
55 Wo aber ist einer,
  Um frei zu bleiben
  Sein Leben lang, und des Herzens Wunsch
  Allein zu erfüllen, so
  Aus günstigen Höhn, wie der Rhein,
60 Und so aus heiligem Schoße
  Glücklich geboren, wie jener?

  Drum ist ein Jauchzen sein Wort.
  Nicht liebt er, wie andere Kinder,
  In Wickelbanden zu weinen;
65 Denn wo die Ufer zuerst
  An die Seit ihm schleichen, die krummen,
  Und durstig umwindend ihn,
  Den Unbedachten, zu ziehn
  Und wohl zu behüten begehren
70 Im eigenen Zahne, lachend
  Zerreißt er die Schlangen und stürzt
  Mit der Beut und wenn in der Eil'
  Ein Größerer ihn nicht zähmt,
  Ihn wachsen läßt, wie der Blitz, muß er
75 Die Erde spalten, und wie Bezauberte fliehn
  Die Wälder ihm nach und zusammensinkend die Berge.

  Ein Gott will aber sparen den Söhnen
  Das eilende Leben und lächelt,
  Wenn unenthaltsam, aber gehemmt
80 Von heiligen Alpen, ihm
  In der Tiefe, wie jener, zürnen die Ströme.
  In solcher Esse wird dann
  Auch alles Lautre geschmiedet,
  Und schön ists, wie er drauf,
85 Nachdem er die Berge verlassen,
  Stillwandelnd sich im deutschen Lande
  Begnüget und das Sehnen stillt
  Im guten Geschäfte, wenn er das Land baut
  Der Vater Rhein und liebe Kinder nährt
90 In Städten, die er gegründet.

  Doch nimmer, nimmer vergißt ers.
  Denn eher muß die Wohnung vergehn,
  Und die Satzung und zum Unbild werden
  Der Tag der Menschen, ehe vergessen
95 Ein solcher dürfte den Ursprung
  Und die reine Stimme der Jugend.
  Wer war es, der zuerst
  Die Liebesbande verderbt
  Und Stricke von ihnen gemacht hat?
100 Dann haben des eigenen Rechts
  Und gewiß des himmlischen Feuers
  Gespottet die Trotzigen, dann erst
  Die sterblichen Pfade verachtend
  Verwegnes erwählt
105 Und den Göttern gleich zu werden getrachtet.

  Es haben aber an eigner
  Unsterblichkeit die Götter genug, und bedürfen
  Die Himmlischen eines Dings,
  So sinds Heroën und Menschen
110 Und Sterbliche sonst. Denn weil
  Die Seligsten nichts fühlen von selbst,
  Muß wohl, wenn solches zu sagen
  Erlaubt ist, in der Götter Namen
  Teilnehmend fühlen ein Andrer,
115 Den brauchen sie; jedoch ihr Gericht
  Ist, daß sein eigenes Haus
  Zerbreche der und das Liebste
  Wie den Feind schelt und sich Vater und Kind
  Begrabe unter den Trümmern,
120 Wenn einer, wie sie, sein will und nicht
  Ungleiches dulden, der Schwärmer.

  Drum wohl ihm, welcher fand
  Ein wohlbeschiedenes Schicksal,
  Wo noch der Wanderungen
125 Und süß der Leiden Erinnerung
  Aufrauscht am sichern Gestade,
  Daß da und dorthin gern
  Er sehn mag bis an die Grenzen
  Die bei der Geburt ihm Gott
130 Zum Aufenthalte gezeichnet.
  Dann ruht er, seligbescheiden,
  Denn alles, was er gewollt,
  Das Himmlische, von selber umfängt
  Es unbezwungen, lächelnd
135 Jetzt, da er ruhet, den Kühnen.

  Halbgötter denk' ich jetzt
  Und kennen muß ich die Teuern,
  Weil oft ihr Leben so
  Die sehnende Brust mir beweget.
140 Wem aber, wie, Rousseau, dir,
  Unüberwindlich die Seele,
  Die starkausdauernde ward,
  Und sicherer Sinn
  Und süße Gabe zu hören,
145 Zu reden so, daß er aus heiliger Fülle
  Wie der Weingott, törig göttlich
  Und gesetzlos sie die Sprache der Reinesten gibt
  Verständlich den Guten, aber mit Recht
  Die Achtungslosen mit Blindheit schlägt
150 Die entweihenden Knechte, wie nenn ich den Fremden?

  Die Söhne der Erde sind, wie die Mutter,
  Alliebend, so empfangen sie auch
  Mühlos, die Glücklichen, Alles.
  Drum überraschet es auch
155 Und schröckt den sterblichen Mann,
  Wenn er den Himmel, den
  Er mit den liebenden Armen
  Sich auf die Schultern gehäuft,
  Und die Last der Freude bedenket;
160 Dann scheint ihm oft das Beste,
  Fast ganz vergessen da,
  Wo der Strahl nicht brennt,
  Im Schatten des Walds
  Am Bielersee in frischer Grüne zu sein,
165 Und sorglosarm an Tönen,
  Anfängern gleich, bei Nachtigallen zu lernen.

  Und herrlich ists, aus heiligem Schlafe dann
  Erstehen und aus Waldes Kühle
  Erwachend, Abends nun
170 Dem milderen Licht entgegenzugehn,
  Wenn, der die Berge gebaut
  Und den Pfad der Ströme gezeichnet,
  Nachdem er lächelnd auch
  Der Menschen geschäftiges Leben
175 Das othemarme, wie Segel
  Mit seinen Lüften gelenkt hat,
  Auch ruht und zu der Schülerin jetzt,
  Der Bildner, Gutes mehr
  Denn Böses findend,
180 Zur heutigen Erde der Tag sich neiget. –

  Dann feiern das Brautfest Menschen und Götter,
  Es feiern die Lebenden all,
  Und ausgeglichen
  Ist eine Weile das Schicksal.
185 Und die Flüchtlinge suchen die Herberg,
  Und süßen Schlummer die Tapfern,
  Die Liebenden aber
  Sind, was sie waren, sie sind
  Zu Hause, wo die Blume sich freuet
190 Unschädlicher Glut und die finsteren Bäume
  Der Geist umsäuselt, aber die Unversöhnten
  Sind umgewandelt und eilen
  Die Hände sich ehe zu reichen,
  Bevor das freundliche Licht
195 Hinuntergeht und die Nacht kommt.

  Doch einigen eilt
  Dies schnell vorüber, andere
  Behalten es länger.
  Die ewigen Götter sind
200 Voll Lebens allzeit; bis in den Tod
  Kann aber ein Mensch auch
  Im Gedächtnis doch das Beste behalten,
  Und dann erlebt er das Höchste.
  Nur hat ein jeder sein Maß.
205 Denn schwer ist zu tragen
  Das Unglück, aber schwerer das Glück.
  Ein Weiser aber vermocht es
  Vom Mittag bis in die Mitternacht,
  Und bis der Morgen erglänzte,
210 Beim Gastmahl helle zu bleiben.

  Dir mag auf heißem Pfade unter Tannen oder
  Im Dunkel des Eichwalds gehüllt
  In Stahl, mein Sinklair! Gott erscheinen oder
  In Wolken, du kennst ihn, da du kennest, jugendlich,
215 Des Guten Kraft, und nimmer ist dir
  Verborgen das Lächeln des Herrschers
  Bei Tage, wenn
  Es fieberhaft und angekettet das
  Lebendige scheinet oder auch
220 Bei Nacht, wenn alles gemischt
  Ist ordnungslos und wiederkehrt
  Uralte Verwirrung.