Friedrich Rückert Abendlied (1815)

  Ich stand auf Berges Halde,
     Als Sonn' hinunterging,
     Und sah, wie überm Walde
     Des Abends Goldnetz hing.
5 Des Himmels Wolken tauten
     Der Erde Frieden zu,
     Bei Abendglockenlauten
     Ging die Natur zur Ruh'.
  Ich sprach: O Herz, empfinde
10    Der Schöpfung Stille nun
     Und schick' mit jedem Kinde
     Der Flur dich auch, zu ruhn.
  Die Blumen alle schließen
     Die Augen allgemach,
15    Und alle Wellen fließen
     Besänftiget im Bach.
  Nun hat der müde Sylphe
     Sich unters Blatt gesetzt,
     Und die Libell' am Schilfe
20    Entschlummert taubenetzt.
  Es ward dem goldnen Käfer
     Zur Wieg' ein Rosenblatt;
     Die Herde mit dem Schäfer
     Sucht ihre Lagerstatt.
25 Die Lerche sucht aus Lüften
     Ihr feuchtes Nest im Klee,
     Und in des Waldes Schlüften
     Ihr Lager Hirsch und Reh.
  Wer sein ein Hüttchen nennet,
30    Ruht nun darin sich aus;
     Und wen die Fremde trennet,
     Den trägt ein Traum nach Haus.
  Mich fasset ein Verlangen,
     Daß ich zu dieser Frist
35    Hinauf nicht kann gelangen,
     Wo meine Heimat ist.

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