Friedrich Rückert Es ging ein Mann im Syrerland (1820)

  Es ging ein Mann im Syrerland,
    Führt' ein Kamel am Halfterband.
    Das Tier mit grimmigen Gebärden
    Urplötzlich anfing scheu zu werden,
5   Und that so ganz entsetzlich schnaufen,
    Der Führer vor ihm mußt' entlaufen.
    Er lief und einen Brunnen sah
    Von ungefähr am Wege da.
    Das Tier hört' er im Rücken schnauben,
10   Das mußt' ihm die Besinnung rauben.
    Er in den Schacht des Brunnens kroch,
    Er stürzte nicht, er schwebte noch.
    Gewachsen war ein Brombeerstrauch
    Aus des geborstnen Brunnens Bauch;
15   Daran der Mann sich fest that klammern
    Und seinen Zustand drauf bejammern.
    Er blickte in die Höh', und sah
    Dort das Kamelhaupt furchtbar nah,
    Das ihn wollt' oben fassen wieder.
20   Dann blickt' er in den Brunnen nieder;
    Da sah am Grund er einen Drachen
    Aufgähnen mit entsperrtem Rachen,
    Der drunten ihn verschlingen wollte,
    Wenn er hinunterfallen sollte.
25   So schwebend in der beiden Mitte,
    Da sah der Arme noch das dritte.
    Wo in die Mauerspalte ging
    Des Sträuchleins Wurzel, dran er hing,
    Da sah er still ein Mäusepaar,
30   Schwarz eine, weiß die andre war.
    Er sah die schwarze mit der weißen
    Abwechselnd an der Wurzel beißen.
    Sie nagten, zausten, gruben, wühlten,
    Die Erd' ab von der Wurzel spülten;
35   Und wie sie rieselnd niederrann,
    Der Drach' im Grund aufblickte dann,
    Zu sehn, wie bald mit seiner Bürde
    Der Strauch entwurzelt fallen würde.
    Der Mann in Angst und Furcht und Not,
40   Umstellt, umlagert und umdroht,
    Im Stand des jammerhaften Schwebens,
    Sah sich nach Rettung um vergebens.
    Und da er also um sich blickte,
    Sah er ein Zweiglein, welches nickte
45   Vom Brombeerstrauch mit reifen Beeren;
    Da konnt' er doch der Lust nicht wehren.
    Er sah nicht des Kameles Wut
    Und nicht den Drachen in der Flut
    Und nicht der Mäuse Tückespiel,
50   Als ihm die Beer' ins Auge fiel.
    Er ließ das Tier von oben rauschen,
    Und unter sich den Drachen lauschen,
    Und neben sich die Mäuse nagen,
    Griff nach den Beerlein mit Behagen,
55   Sie deuchten ihm zu essen gut,
    Aß Beer' auf Beerlein wohlgemut,
    Und durch die Süßigkeit im Essen
    War alle seine Furcht vergessen.
  Du fragst: Wer ist der thöricht' Mann,
60   Der so die Furcht vergessen kann?
    So wiss', o Freund, der Mann bist du;
    Vernimm die Deutung auch dazu.
    Es ist der Drach' im Brunnengrund
    Des Todes aufgesperrter Schlund;
65   Und das Kamel, das oben droht,
    Es ist des Lebens Angst und Not.
    Du bist's, der zwischen Tod und Leben
    Am grünen Strauch der Welt mußt schweben.
    Die beiden, so die Wurzel nagen,
70   Dich samt den Zweigen, die dich tragen,
    Zu liefern in des Todes Macht,
    Die Mäuse heißen Tag und Nacht.
    Es nagt die schwarze wohl verborgen
    Vom Abend heimlich bis zum Morgen,
75   Es nagt vom Morgen bis zum Abend
    Die weiße, wurzeluntergrabend.
    Und zwischen diesem Graus und Wust
    Lockt dich der Beere Sinnenlust
    Daß du Kamel, die Lebensnot,
80   Daß du im Grund den Drachen Tod,
    Daß du die Mäuse Tag und Nacht
    Vergissest und auf nichts hast acht,
    Als daß du recht viel Beerlein haschest,
    Aus Grabes Brunnenritzen naschest.

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