Friedrich Schiller Die Ideale (1788)

  So willst du treulos von mir scheiden
  Mit deinen holden Phantasien,
  Mit deinen Schmerzen, deinen Freuden,
  Mit allen unerbittlich fliehn?
5 Kann nichts dich, Fliehende! verweilen,
  O meines Lebens goldne Zeit?
  Vergebens, deine Wellen eilen
  Hinab ins Meer der Ewigkeit.

  Erloschen sind die heitern Sonnen,
10 Die meiner Jugend Pfad erhellt,
  Die Ideale sind zerronnen,
  Die einst das trunkne Herz geschwellt,
  Er ist dahin, der süße Glaube
  An Wesen, die mein Traum gebar,
15 Der rauhen Wirklichkeit zum Raube,
  Was einst so schön, so göttlich war.

  Wie einst mit flehendem Verlangen
  Pygmalion den Stein umschloß,
  Bis in des Marmors kalte Wangen
20 Empfindung glühend sich ergoß,
  So schlang ich mich mit Liebesarmen
  Um die Natur, mit Jugendlust,
  Bis sie zu atmen, zu erwarmen
  Begann an meiner Dichterbrust -

25 Und teilend meine Flammentriebe
  Die Stumme eine Sprache fand,
  Mir wiedergab den Kuß der Liebe,
  Und meines Herzens Klang verstand;
  Da lebte mir der Baum, die Rose,
30 Mir sang der Quellen Silberfall,
  Es fühlte selbst das Seelenlose
  Von meines Lebens Widerhall.

  Es dehnte mit allmächtgem Streben
  Die enge Brust ein kreißend All,
35 Herauszutreten in das Leben
  In Tat und Wort, in Bild und Schall.
  Wie groß war diese Welt gestaltet,
  Solang die Knospe sie noch barg,
  Wie wenig, ach! hat sich entfaltet,
40 Dies wenige, wie klein und karg.

  Wie sprang, von kühnem Mut beflügelt,
  Beglückt in seines Traumes Wahn,
  Von keiner Sorge noch gezügelt,
  Der Jüngling in des Lebens Bahn.
45 Bis an des Ã?Â?thers bleichste Sterne
  Erhob ihn der Entwürfe Flug,
  Nichts war so hoch, und nichts so ferne,
  Wohin ihr Flügel ihn nicht trug.

  Wie leicht ward er dahingetragen,
50 Was war dem Glücklichen zu schwer!
  Wie tanzte vor des Lebens Wagen
  Die luftige Begleitung her!
  Die Liebe mit dem süßen Lohne,
  Das Glück mit seinem goldnen Kranz,
55 Der Ruhm mit seiner Sternenkrone,
  Die Wahrheit in der Sonne Glanz!

  Doch ach! schon auf des Weges Mitte
  Verloren die Begleiter sich,
  Sie wandten treulos ihre Schritte,
60 Und einer nach dem andern wich.
  Leichtfüßig war das Glück entflogen,
  Des Wissens Durst blieb ungestillt,
  Des Zweifels finstre Wetter zogen
  Sich um der Wahrheit Sonnenbild.

65 Ich sah des Ruhmes heilge Kränze
  Auf der gemeinen Stirn entweiht.
  Ach! allzu schnell nach kurzem Lenze
  Entfloh die schöne Liebeszeit.
  Und immer stiller wards und immer
70 Verlaßner auf dem rauhen Steg,
  Kaum warf noch einen bleichen Schimmer
  Die Hoffnung auf den finstern Weg.

  Von all dem rauschenden Geleite,
  Wer harrte liebend bei mir aus?
75 Wer steht mir tröstend noch zur Seite,
  Und folgt mir bis zum finstern Haus?
  Du, die du alle Wunden heilest,
  Der Freundschaft leise zarte Hand,
  Des Lebens Bürden liebend teilest,
80 Du, die ich frühe sucht und fand.

  Und du, die gern sich mit ihr gattet,
  Wie sie, der Seele Sturm beschwört,
  Beschäftigung, die nie ermattet,
  Die langsam schafft, doch nie zerstört,
85 Die zu dem Bau der Ewigkeiten
  Zwar Sandkorn nur für Sandkorn reicht,
  Doch von der großen Schuld der Zeiten
  Minuten, Tage, Jahre streicht.

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