Gottfried Keller Der Taugenichts (1855)

  Die ersten Veilchen waren schon
  Erwacht im stillen Tal,
  Das Bettelpack schlug auf den Thron
  Im Feld zum ersten Mal.
5 Der Alte auf dem Rücken lag,
  Die Mutter wusch am See;
  Bestaubt und unrein schmolz im Hag
  Das letzte Häuflein Schnee.

  Der Vollmond warf den Silberschein
10 Dem Bettler in die Hand,
  Bestreut der Frau mit Edelstein
  Die Lumpen, die sie wand;
  Ein linder West blies in die Glut
  Von einem Dorngeflecht,
15 Drauf kocht' in Bettelmannes Hut
  Ein sündengrauer Hecht.

  Da kam der kleine Betteljung,
  Vor Hunger schwach und matt,
  Doch glühend in Begeisterung
20 Vom Streifen durch die Stadt,
  Hielt eine Hyazinth empor
  In dunkelblauer Luft;
  Die Blume war von selt'nem Flor
  Und selig süß ihr Duft.

25 Der Vater rief: Wohl hast du mir
  Viel Pfennige gebracht?
  Der Knabe rief: O sehet hier
  Der Blume Zauberpracht!
  Ich lag am goldnen Gittertor,
30 Vom Morgen bis zur Nacht,
  Die Blume aus dem Wunderflor
  Zu stehlen nur bedacht!

  Seht nur, wie vornehm und wie fein,
  Wie zierlich sie gebaut!
35 Ich habe starr nach ihrem Schein
  Den ganzen Tag geschaut.
  O schlaget nicht mich armen Wicht,
  Laßt euren Stecken ruh'n!
  Ich will ja nichts, mich hungert nicht,
40 Ich will's nicht wieder tun!

  O sehet nur, ich werde toll,
  Die Glöcklein alle an!
  Ihr Duft, so fremd und wundervoll,
  Hat mir es angetan!
45 Auch alle Blumen nun im Feld
  Lieb' ich von heute an;
  Die Hexe, welche neue Welt
  Hat sie mir aufgetan!

  O wehe mir geschlagnem Tropf!
50 Brach nun der Alte aus:
  Mein Kind kommt mit verrücktem Kopf,
  Anstatt mit Brot nach Haus!
  Du Taugenichts, du Tagedieb,
  Und deiner Eltern Schmach!
55 Und rüstig langt er Hieb auf Hieb
  Dem armen Jungen nach.

  Im Zorn fraß er den Hecht, noch eh'
  Er gar gesotten war,
  Warf weit die Gräte in den See
60 Und stülpt' den Filz auf's Haar.
  Die Mutter schmält' mit lindem Wort,
  Den mißgeratnen Sohn,
  Der warf die Blume zitternd fort
  Und hinkte still davon.

65 Es perlte seiner Tränen Fluß,
  Er legte sich in's Gras
  Und zog aus seinem wunden Fuß
  Ein Stücklein scharfes Glas.
  Der Gott der Taugenichtse rief
70 Der guten Nachtigall,
  Daß sie dem Kind ein Liedlein pfiff
  Zum Schlaf mit süßem Schall.

Neuen Kommentar hinzufügen

Die Technik der Kommentarfunktion "DISQUS" wird von einem externen Unternehmen, der Big Head Labs, Inc., San Francisco/USA., zur Verfügung gestellt, die Moderation der Kommentare liegt allein bei Lyrik123.de. Weitere Informationen finden Sie in unseren Datenschutzbestimmungen.