Gottfried Keller Die Winzerin (1889)

  Am sonnig weißen Gartenhaus,
  Da reifet Traub' an Traube,
  Die sanfte Schöne tritt heraus
  Und prüft die schwere Laube;
5 Dem blauen Blick des Weibes gleicht
  Der Beeren dunkle Menge;
  Wohin ihr freundlich Auge reicht,
  Lacht freundliches Gedränge.

  Rings lockt das noch gefang'ne Blut
10 Zu Häupten und zu Füßen,
  Und sie beginnt mit stillem Mut
  Zu schneiden all' die süßen.
  Und wie sie mit der lieben Hand
  Die grünen Blätter teilet,
15 Hin schweifet über See und Land
  Im Flug der Blick und weilet.

  Gleich einer reifen Beere glänzt
  Ihr feuchtes Aug' hinüber,
  Wo's blaut und leuchtet unbegrenzt,
20 So fern, so fern herüber.
  Sie lässet still und ahnungsvoll
  Die vollen Trauben sinken,
  Bis es in Körben reizend schwoll
  Mit tausendfachem Blinken.

25 Und auf der Laube Marmeltisch
  Zu keltern sie beginnet,
  Daß aus der Kelter duftig frisch
  Das Blut der Traube rinnet;
  Wie muß der weißen Arme Zier
30 Mit holder Kraft sich mühen!
  Sie keltert, bis die Wangen ihr
  Gleich jungen Rosen blühen.

  Sie keltert, daß der Busen fliegt
  Und woget ungemessen;
35 Umsonst, was ihr im Sinne liegt,
  Das kann sie nicht vergessen!
  Umsonst – wie oft die Krüge sie
  Mit starkem Moste füllet,
  Sie selber hat den Durst noch nie,
40 Das Sehnen nie gestillet.

  Sie läßt den heißen Rebensaft
  Mit treuer Sorge gären,
  In kühler Nacht zu milder Kraft,
  Zum selt'nen Wein sich klären.
45 Den trägt sie zu den Hütten hin
  Auf Höhen und im Tale;
  Sie reicht der armen Wöchnerin,
  Dem kranken Greis die Schale.

  So keltert sie den Edelwein
50 Im Herbste schon seit Jahren.
  Ein Segel kommt im gold'nen Schein
  Des Abends fern gefahren;
  Im Hafen legt das Schiff sich an,
  Sie hört die Schiffer singen,
55 Und einen hochgemuten Mann
  Sieht sie an's Ufer springen.

  Sie kennt ihn und sie kennt ihn nicht,
  Sie starrt hinaus in's Weite,
  Als es mit trauter Stimme spricht
60 Und grüßt schon ihr zur Seite.
  Die frohen Klänge mischen sich,
  Das Wort hier, dort die Lieder:
  »Ratlos verließ der Knabe dich,
  Nun kehrt ein Mann dir wieder!

65 O schau wie leuchtet's weit und breit,
  Wie klar der Tag, die Stunde!
  Und reif die schönste Lebenszeit
  Küßt mich von deinem Munde!«
  Da ist in seine Arme hin
70 Sie wonnevoll gesunken,
  Und weinend hat die Winzerin
  Zum ersten Mal getrunken.

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