Johann Christian Günther Am Abend (1718)

  Abermahl ein Theil vom Jahre,
  Abermahl ein Tag vollbracht;
  Abermahl ein Bret zu Baare
  Und ein Schritt zur Gruft gemacht,

5 Also nähert sich die Zeit
  Nach und nach der Ewigkeit,
  Also müßen wir auf Erden
  Zu dem Tode reifer werden.

  Herr und Schöpfer aller Dinge,
10 Der du mir den Tag verliehn,
  Höre, was ich thränend singe,
  Las mich würdig niederknien:

  Nimm das Abendopfer hin,
  Das ich heute schuldig bin;
15 Denn es sind nicht schlechte Sünden,
  Welche mich darzu verbinden.

  Treuer Vater, deine Güte
  Heißet überschwenglich groß,
  Drum erquicke mein Gemüthe,
20 Sprich mich ledig, frey und los.

  Gieb der Buße stets Gehör,
  Denn dein Knecht verspricht nunmehr,
  Dein Geseze, deinen Willen
  Nach Vermögen zu erfüllen.

25 Das Verdienst der vielen Wunden,
  Die mein Heiland scharf gefühlt,
  Hat in seinen Todesstunden
  Deine Zornglut abgekühlt.

  Schweig, wenn dieses Lösegeld
30 Meiner Schuld die Waage hält,
  Und beschicke mich im Schlafe
  Durch kein Aufboth deiner Strafe.

  Las mich an der Brust erwarmen,
  Die am Creuze nackend hing;
35 Wiege mich in deßen Armen,
  Der den Schächer noch umfing;

  Stelle mir der Engel Chor
  Als die beste Schildwacht vor!
  Satan möchte sonst ein Schröcken
40 In der Finsternüß erwecken.

  Schüze den, der meiner Liebe
  An das Herz gebunden ist,
  Daß kein Fall sein Ohr betrübe,
  Das vielleicht den Seiger mißt.

45 Stärck ihm den betrübten Geist,
  Wenn er bittre Salsen speist,
  Und las noch in diesem Leben
  Uns einander wiedergeben.

  Trag das Alter meiner Eltern
50 Auf den Flügeln deiner Hut,
  Tritt vor sie die Schwachheitskeltern;
  Mehre derer Hab und Gut,

  Die mir jemahls Guts gethan;
  Nimm dich meiner Freundschaft an
55 Und verzeih den Lästerzungen,
  Über die ich oft gesprungen.

  Seegne die gerechten Wafen
  Deiner werthen Christenheit,
  Uns den Frieden herzuschafen,
60 Den der Feind zu stehlen dräut;

  Halt den Schatten rechter Hand
  Über unser Vaterland,
  Daß die drey berühmten Plagen
  Weder Vieh noch Völcker schlagen.

65 Gute Nacht, ihr eitlen Sorgen;
  Ich begehre meiner Ruh.
  Jesus schließet bis auf morgen
  Auge, Thür und Kammer zu.

  Sanftes Lager, sey gegrüßt,
70 Weil du deßen Vorbild bist,
  Das ich dermahleinst im Grabe
  Sicher zu gewarthen habe.

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