Johann Wolfgang von Goethe

Die Braut von Corinth (1801)

  Nach Corinthus von Athen gezogen
  kam ein Jüngling dort noch unbekannt.
  Einen Bürger hofft' er sich gewogen,
  beide Väter waren gastverwandt,
5 hatten frühe schon
  Töchterchen und Sohn
  Braut und Bräutigam voraus genannt.

  Aber wird er auch willkommen scheinen,
  wenn er teuer nicht die Gunst erkauft?
10 Er ist noch ein Heide mit den Seinen,
  und sie sind schon Christen und getauft.
  Keimt ein Glaube neu,
  wird oft Lieb und Treu
  wie ein böses Unkraut ausgerauft.

15 Und schon lag das ganze Haus im Stillen,
  Vater, Töchter, nur die Mutter wacht;
  sie empfängt den Gast mit bestem Willen,
  gleich ins Prunkgemach wird er gebracht.
  Wein und Essen prangt,
20 eh' er es verlangt:
  so versorgend wünscht sie gute Nacht.

  Aber bei dem wohlbestellten Essen
  wird die Lust zur Speise nicht erregt;
  Müdigkeit läßt Speis und Trank vergessen,
25 daß er angekleidet sich aufs Bette legt;
  und er schlummert fast,
  als ein seltner Gast
  sich zur offnen Tür herein bewegt.

  Denn er sieht, bei seiner Lampe Schimmer,
30 tritt mit weißem Schleier und Gewand,
  sittsam still ein Mädchen in das Zimmer,
  um die Stirn ein schwarz und goldnes Band.
  Wie sie ihn erblickt,
  hebt sie, die erschrickt,
35 mit Erstaunen eine weiße Hand.

  Bin ich denn, bin ich so fremd im Hause,
  daß ich von dem Gaste nichts vernahm?
  Ach, so hält man mich in meiner Klause!
  Und nun überfällt mich hier die Scham.
40 Ruhe nur so fort
  auf dem Lager dort,
  und ich gehe schnell, so wie ich kam."

  Bleibe, schönes Mädchen! ruft der Knabe,
  rafft von seinem Lager sich geschwind,
45 Hier ist Ceres', hier ist Bacchus' Gabe,
  und du bringst den Amor, liebes Kind!
  Bist vor Schrecken blaß!
  Liebe, komm und laß,
  laß uns sehn, wie froh die Götter sind!"

50 Ferne bleib, o Jüngling! bleibe stehen;
  ich gehöre nicht den Freuden an.
  Schon der letzte Schritt ist, ach! geschehen,
  durch der guten Mutter kranken Wahn,
  die genesend schwur:
55 Jugend und Natur
  sei dem Himmel künftig untertan.

  Und der alten Götter bunt Gewimmel
  hat sogleich das stille Haus geleert.
  Unsichtbar wird Einer nur im Himmel,
60 und ein Heiland wird am Kreuz verehrt;
  Opfer fallen hier,
  weder Lamm noch Stier,
  aber Menschenopfer unerhört!"

  Und er fragt und wäget alle Worte,
65 deren keines seinem Geist entgeht.
  Ist es möglich, daß am stillen Orte
  die geliebte Braut hier vor mir steht?
  Sei die Meine nur!
  Unsrer Väter Schwur
70 hat vom Himmel Segen uns erfleht."

  Mich erhältst du nicht, du gute Seele!
  Meiner zweiten Schwester gönnt man dich.
  Wenn ich mich in stiller Klause quäle,
  ach! in ihren Armen denk an mich,
75 die an dich nur denkt,
  die sich liebend kränkt;
  in die Erde bald verbirgt sie sich!"

  Nein! Nein, bei dieser Flamme sei's geschworen,
  gütig zeigt sich Hymen uns voraus,
80 nicht der Freud' und mir bist du verloren,
  kommst mit mir in meines Vaters Haus.
  Liebchen, bleibe hier,
  feire gleich mit mir
  unerwartet unsern Hochzeitsschmaus."

85 Und schon wechseln sie der Treue Zeichen;
  golden reicht sie ihm die Kette dar,
  und er will ihr eine Schale reichen,
  silbern, künstlich, wie nicht eine war.
  Die ist nicht für mich;
90 doch, ich bitte dich,
  eine Locke gib von deinem Haar."

  Eben schlug die dumpfe Geisterstunde,
  und nun schiens es ihr erst wohl zu sein.
  Gierig schlürfte sie mit blassem Munde
95 nun den dunkel blutgefärbten Wein;
  doch vom Weizenbrod,
  das er freundlich bot,
  nahm sie nicht den kleinsten Bissen ein.

  Und dem Jüngling reichte sie die Schale,
100 der, wie sie, nun hastig lüstern trank.
  Liebe fordert er beim stillen Mahle;
  ach, sein armes Herz war liebe krank.
  Doch sie widersteht,
  wie er immer fleht,
105 bis er weinend auf das Bette sank.

  Und sie kommt und wirft sich zu ihm nieder;
  Ach, wie ungern seh' ich dich gequält!
  Aber, ach! berührst du meine Glieder,
  fühlst du schaudernd, was ich dir verhehlt.
110 Wie der Schnee so weiß,
  aber kalt wie Eis,
  ist das Liebchen, das du dir erwählt."

  Heftig faßt er sie mit starken Armen,
  von der Liebe Jugendkraft durchmannt:
115 Hoffe doch bei mir noch zu erwarmen,
  wärst du selbst mir aus dem Grab gesandt!
  Wechsel hauch und Kuß!
  Liebesüberfluß!
  Brennst du nicht und fühlest mich entbrannt?"

120 Liebe schliesset fester sie zusammen,
  Tränen mischen sich in ihre Lust;
  gierig saugt sie seines Mundes Flammen,
  Eins ist nur im Andern sich bewußt.
  Seine Liebeswut
125 wärmt ihr starres Blut,
  doch es schlägt kein Herz in ihrer Brust.

  Unterdessen schleichet auf dem Gange
  häuslich spät die Mutter noch vorbei,
  horchet an der Tür und horchet lange,
130 welch ein sonderbarer Ton es sei:
  Klag- und Wonnelaut,
  Bräutigam und Braut,
  und des Liebestammelns Raserei.

  Unbeweglich bleibt sie an der Türe,
135 weil sie erst sich überzeugen muß,
  und sie hört die höchsten Liebesschwüre,
  Lieb' und Schmeichelworte, mit Verdruß.
  Still! Der Hahn erwacht!
  Aber morgen Nacht
140 bist du wieder da? und Kuß und Kuß.

  Länger hält die Mutter nicht das Zürnen,
  öffnet das bekannte Schloß geschwind:
  Gibt es hier im Hause solche Dirnen,
  die dem Fremden gleich zu Willen sind?"
145 So zur Tür hinein.
  Bei der Lampe Schein
  sieht sie - Gott! sie sieht ihr eigen Kind.

  Und der Jüngling will im ersten Schrecken
  mit des Mädchens eignem Schleierflor,
150 mit dem Teppich die Geliebte decken;
  doch sie windet gleich sich selbst hervor.
  Wie mit Geist's Gewalt
  hebet die Gestalt
  lang und langsam sich im Bett empor.

155 Mutter, Mutter! denket meiner Worte:
  so missgönnt Ihr mir die schöne Nacht!
  Ihr vertreibt mich von dem warmen Orte.
  Bin ich zur Verzweiflung nur erwacht?
  Ist's Euch nicht genug,
160 daß ins Liechentuch,
  daß Ihr früh mich in das Grab gebracht?

  Aber aus der schwerbedeckten Enge
  treibet mich ein eigenes Gericht.
  Eurer Priester summende Gesänge
165 und ihr Segen haben kein Gewicht;
  Salz und Wasser kühlt
  nicht, wo Jugend fühlt;
  ach! die Erde kühlt die Liebe nicht!

  Schöner Jüngling! - kannst nicht länger leben;
170 du versiechest nun an diesem Ort.
  Meine Kette hab' ich dir gegeben;
  deine Locke nehm ich mit mir fort!
  Sieh sie an genau!
  Morgen bist du grau,
175 und nur braun erscheinst du wieder dort.

  Höre, Mutter, nun die letzte Bitte:
  einen Scheiterhaufen schichte du;
  öffne meine bange kleine Hütte,
  bring in Flammen Liebende zur Ruh!
180 Wenn der Funke sprüht,
  und die Flamme glüht,
  eilen wir den alten Göttern zu."