Johann Wolfgang von Goethe Künstlers Morgenlied (1802)

  Der Tempel ist euch aufgebaut,
  Ihr hohen Musen all,
  Und hier in meinem Herzen ist
  Das Allerheiligste.

5 Wenn morgens mich die Sonne weckt
  Warm froh ich schau' umher,
  Steht rings ihr Ewiglebenden
  Im heil'gen Morgenglanz.

  Ich bet' hinan, und Lobgesang
10 Ist lauter mein Gebet,
  Und freudeklingend Saitenspiel
  Begleitet mein Gebet.

  Ich trete vor den Altar hin
  Und lese, wie sich's ziemt,
15 Andacht liturg'scher Lektion
  Im heiligen Homer.

  Und wenn der ins Getümmel mich
  Von Löwenkriegern reißt,
  Und Göttersöhn' auf Wagen hoch
20 Rachglühend stürmen an,

  Und Ross dann vor dem Wagen stürzt,
  Und drunter und drüber sich
  Freund', Feinde wälzen in Todesblut -
  Er sengte sie dahin

25 Mit Flammenschwert, der Heldensohn,
  Zehntausend auf einmal,
  Bis dann auch er, gebändiget
  Von einer Götterhand,

  Ab auf den Rogus niederstürzt,
30 Den er sich selbst gehäust,
  Und Feinde nun den schönen Leib
  Verschändend tasten an:

  Da greif' ich mutig auf, es wird
  Die Kohle zum Gewehr,
35 Und jene meine hohe Wand
  In Schlachtfeldwogen braust.

  Hinan! Hinan! Es heulet laut
  Gebrüll der Feindeswut,
  Und Schild an Schild, und Schwert auf Helm,
40 Und um den Toten Tod.

  Ich dränge mich hinan, hinan,
  Da kämpfen sie um ihn,
  Die tapfern Freunde, tapferer
  In ihrer Tränenwut.

45 Ach, rettet! Kämpfet! Rettet ihn!
  Ins Lager tragt ihn fort
  Und Balsam gießt dem Toten auf
  Und Tränen Totenehr'!

  Und find' ich mich zurück hierher,
50 Empfängst du Liebe mich,
  Mein Mädchen! Ach, im Bilde nur,
  Und so im Bilde warm!

  Ach, wie du ruhtest neben mir
  Und schmachtetest mich an,
55 Und mir's vom Aug' durchs Herz hindurch
  Zum Griffel schmachtete!

  Wie ich an Aug' und Wange mich
  Und Mund mich weidete,
  Und mir's im Busen jung und frisch,
60 Wie einer Gottheit, war!

  O kehre doch und bleibe dann
  In meinen Armen fest,
  Und keine, keine Schlachten mehr,
  Nur dich in meinem Arm!

65 Und sollst mir, meine Liebe, sein
  Alldeutend Ideal,
  Madonna sein, ein Erstlingskind,
  Ein heiligs an der Brust;

  Und haschen will ich, Nymphe, dich
70 Im tiefen Waldgebüsch;
  O fliehe nicht die raue Brust,
  Mein aufgerecktes Ohr!

  Und liegen will ich Mars zu dir,
  Du Liebesgöttin stark,
75 Und ziehn ein Netz um uns herum
  Und rufen dem Olymp,

  Wer von den Göttern kommen will,
  Beneiden unser Glück,
  Und soll's die Fratze Eifersucht,
80 An Bettfuß angebannt.

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