Richard Dehmel Notturno (1908)

  Hoch hing der Mond; das Schneegefild
  Lag bleich und öde um uns her,
  Wie meine Seele bleich und leer,
  Denn neben mir, so stumm und wild,
5 So stumm und kalt wie meine Not,
  Als wollt' er weichen nimmermehr,
  Saß starr und wartete der Tod.
  Da kam es her wie einst so mild,
  So müd' und sacht aus ferner Nacht,
10 So kummerschwer kam seiner Geige Hauch daher
  Und vor mir stand sein stilles Bild.

  Der mich umflochten wie ein Band,
  Daß meine Blüte nicht zerfiel
  Und daß mein Herz die Sehnsucht fand,
15 Die große Sehnscuht ohne Ziel:
  Da stand er nun im öden Land
  Und stand so trüb' und feierlich
  Und sah auf noch grüßte mich,
  Nur seine Töne ließ er irr'n
20 Und weinen durch die kühle Flur,
  Und mir entgegen starrte nur aus seiner Stirn,
  Als wär's ein Auge hohl und fahl,
  Der tiefen Wunde dunkles Mal.

  Und trüber quoll das trübe Lied
25 Und quoll so heiß, und wuchs und schwoll,
  So heiß und voll,
  Wie Leben, das nach Liebe glüht,
  Wie Liebe, die nach Leben schreit,
  Nach ungenossner Seligkeit,
30 So wehevoll, so wühlend quoll
  Das strömende Lied und flutete,
  Und leise, leise blutete und strömte
  Mit in's bleiche Schneefeld rot und fahl
  Der tiefen Wunde dunkles Mal.

35 Und müder glitt die müde Hand,
  Und vor mir stand ein bleicher Tag,
  Ein ferner, bleicher Jugendtag,
  Da starr im Sand zerfallen seine Blüte lag,
  Da seine Sehnsucht sich vergaß,
40 In ihrer Schwermut Übermaß
  Und ihrer Traurigkeiten müd' zum Ziele schritt;
  Und laut aufschrie das weinende Lied,
  Das wühlende und flutete,
  Und seiner Saiten Klage schnitt,
45 Und seine Stirne blutete
  Und weinte mit in meine starre Seelennot,
  Als sollt' ich hören ein Gebot,
  Als müßt' ich jubeln, daß ich litt,

  Mitfühlen alles Leidens Schuld
50 Und alles Lebens warme Huld;
  Und weinend, blutend wandt' er sich
  In's bleiche Dunkel und verblich.
  Und bebend hört' ich mir entgehn,
  Entfliehn sein Lied. Und wie so zart,
55 So zitternd ward der langen Töne fernes Flehn;
  Da fühlt' ich kalt ein Rauschen wehn
  Und grauenschwer die Luft sich rühren um mich her,
  Und wollte bebend nun ihn sehn,

  Ihn lauschen sehn, der wartend saß bei meiner Not,
60 Und wandte mich: da lag es kahl,
  Das bleiche Feld, und fern und fahl
  Entwich in's Dunkel auch der Tod.
  Hoch hing der Mond, und mild und müd'
  Hin schwand es in die leere Nacht,
65 Das flehende Lied, und schwand und schied,
  Des toten Freundes flehendes Lied.

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