Wolfgang Müller von Königswinter Das Schloß im See (1858)

  Leis auf den Bergwald sinkt die Nacht,
  Der See liegt tief im Dunkeln.
  Wer nur in der Fischerhütte noch wacht?
  Die Flammen des Heerdes funkeln.
5 Großmütterchen erzählt so lang
  In stiller, niederer Stube,
  Die Mädchen lauschen zitternd und bang,
  Großäugig lauscht der Bube.

  Allmählich aber wird’s still und stumm,
10 Es schlafen die Jungen und Alten,
  Der Knabe nur wälzt sich um und um,
  Er denkt an die Märchengestalten.
  Und Mitternacht schlägt unheimlich die Uhr,
  Da hebt er sich brennend vom Kissen:
15 »Jetzt komm’ ich der Wahrheit auf die Spur,
  Ich will die Wahrheit wissen!«

  Er schleicht vor das Haus, er schreitet zur Flut,
  Er löst den Kahn vom Seile,
  Er rudert hinaus mit erhitztem Blut
20 Zu des Wassers Mitte in Eile.
  Fürwahr, jetzt klingt ihm entgegen ein Chor,
  Das ist fern süßes Singen:
  Die Harfen und Flöten tönen hervor,
  Und Becher und Waffen klingen.

25 Er beugt sich über des Schiffleins Rand
  Und stiert in die schaurigen Tiefen,
  Draus klingt es, als ob aus anderem Land
  Verworrene Stimmen riefen.
  Bei Gott, dort ragt der kristallne Palast,
30 Hochgieblig sind Thürme und Hallen,
  Mit Muschelgärten ist er umfaßt,
  Gebüsch’ und Blum’ sind Korallen!

  Der Park und der Hof sind still wie das Grab,
  Dort brennt es von Lichtern im Saale,
35 Die Diener stürmen hinauf und hinab,
  Es schwelgen die Wohner beim Mahle:
  Dort schimmert’s von Früchten, dort perlt es von Wein,
  Dort klingt es von rauschenden Liedern,
  Dort wirbeln im Tanze die reizenden Reihn
40 Mit blühenden Augen und Gliedern.

  Dem Knaben ist irr beim bunten Gewirr,
  Im Grunde raset es wilder –
  O, welch ein bacchantisches, tolles Geschwirr
  Verwilderter üppiger Bilder!
45 Da sieht er ein seliges Mädchengesicht,
  Sie winkt ihm mit lachendem Munde.
  »Großmütterchen,« ruft er, »du logest nicht!« –
  Ein Sprung – und er sinket zum Grunde. –

  Es kam der Morgen so feucht von den Höhn,
50 Es ging durch den Wald ein Geflüster,
  Durchs Seeschilf klang unheimlich Getön.
  Der Fischer naht angstvoll und düster.
  In der Mitte des Sees schwimmt leer der Kahn:
  O, furchtbare Ahnung, entweiche!
55 Er zieht die geworfenen Netze an –
  Drin hebt er des Kindes Leiche! –

  Leis auf den Bergwald sinket die Nacht,
  Der See lieg tief im Dunkeln.
  Wer nur in der Fischerhütte noch wacht? –
60 Es ist eines Lichtleins Funkeln. –
  Großmütterchen betet den Rosenkranz
  In der stillen, niedern Stube,
  Auf der Bahre liegt bei der Lampe Glanz
  Der todte Fischerbube.

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