Wolfgang Müller von Königswinter Der Mönch von Heisterbach (1842)

  Ein junger Mönch im Kloster Heisterbach
  Lustwandelt an des Gartens fernstem Ort,
  Der Ewigkeit sinnt still und tief er nach,
  Und forscht dabei in Gottes heilgem Wort.

5 Er liest, was Petrus der Apostel sprach:
  Dem Herren ist ein Tag wie tausend Jahr,
  Und tausend Jahre sind ihm wie ein Tag.
  Doch wie er sinnt, es wird ihm nimmer klar.

  Und er verliert sich zweifelnd in den Wald,
10 Was um ihn vorgeht, hört und sieht er nicht; -
  Erst wie die fromme Vesperglocke schallt,
  Gemahnt es ihn der ernsten Klosterpflicht.

  Im Lauf erreichet er den Garten schnell,
  Ein Unbekannter öffnet ihm das Thor.
15 Er stutzt - doch sieh, schon glänzt die Kirche hell,
  Und draus ertönt der Brüder heilger Chor.

  Nach seinem Stuhle gehend tritt er ein,
  Doch wunderbar, ein Andrer sitzet dort;
  Er überblickt der Mönche lange Reihn,
20 Nur Unbekannte findet er am Ort.

  Der Staunende wird angestaunt ringsum,
  Man fragt nach Namen, fragt nach dem Begehr,
  Er sagt's, da murmelt man durchs Heiligthum:
  Dreihundert Jahre hieß so Niemand mehr.

25 Der letzte dieses Namens, tönt es dann,
  Er war ein Zweifler und verschwand im Wald;
  Man gab den Namen keinem mehr fortan -
  Er hört das Wort, es überläuft ihn kalt.

  Er nennt den Abt und nennt das Jahr,
30 Man nimmt das alte Klosterbuch zur Hand,
  Da wird ein großes Gotteswunder klar:
  Er ists, der drei Jahrhunderte verschwand.

  Ha, welche Lösung! plötzlich graut sein Haar.
  Er sinkt hin und ist dem Todt geweiht
35 Und sterbend mahnt er seiner Brüder Schaar:
  Gott ist erhaben über Ort und Zeit.

  Was er verhüllt, macht nur ein Wunder klar,
  Drum grübelt nicht, denkt meinem Schicksal nach:
  Ich weiß, ihm ist ein Tag, wie tausend Jahr,
40 Und tausend Jahre sind ihm wie ein Tag.

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